Komponist, Pianist, Autor

Überlegungen


Mann der Renaissance

Auszug aus einem langen Interview in FANFARE (USA) bei Leni Bogat

Ich freute mich über die seltene Gelegenheit, einen der bedeutendsten Musiker unserer Zeit zu interviewen.
Denis Levaillant ist ein wahrer Mann der Renaissance, ein großer Komponist, ein wunderbarer Pianist, Verleger, Produzent, Autor. Hier die unveröffentlichten Antworten auf meine Fragen.


Was halten Sie von einem Komponisten, der als Pianist oder Dirigent seine eigene Musik aufführt?

Nun ja, für mich ist das wirklich die normale Art! Seit der Barockzeit waren Komponisten daran gewohnt, Musik zu improvisieren, aufzuführen und zu schreiben. In den 1960er Jahren interessierten sich die klassischen Komponisten dann mehr für abstrakte Formen als für die Instrumentalpraxis, doch kann man feststellen, dass diese Frage für Jazz, Pop oder Rock, wo die Musiker auf der Bühne stehen, nicht einschlägig ist!
Ich befinde mich gerne in etwas, was ich den „Circulus virtuosus“ nenne, also zwischen dem Instrument (für mich dem Klavier) und dem Geist. Spielen ist Teil meines Schaffensprozesses. Diese Verbindung zwischen der instrumentalen Geste und dem Schreibvorgang ist eine Tradition, die in der westlichen Musik zentral ist.
Hören Sie sich mein von mir als Pianist aufgenommenes Klavierkonzert Echo de Narcisse an, u. zw. besonders das Ende des ersten Satzes: Ich improvisiere die Kadenz. Es war wirklich aufregend, in diesem Moment des Schaffensprozesses zu beschließen, das so zu machen.

Sie sind von einigen als „Monsterpianist“ beschrieben worden. Ihre Technik ist einfach verblüffend. Gab es eine Zeit, in der sie den Ehrgeiz hatten, Konzertpianist zu werden?

Ich habe viel gearbeitet, um einen persönlichen Zugang zum Klavier zu bekommen, mit neuen Gesten und ohne all die schlechten Gewohnheiten, die ich als Kind gelernt hatte. Ich trainierte sehr hart, um Konzertpianist zu werden, bis ich 26 wurde und von der Pariser Nationaloper meinen ersten Auftrag für eine Ballettmusik bekam ... Nun ja, ich war an der Kreuzung von zwei verschiedenen Wegen: mein ganzes Leben lang das gleiche Repertoire zu spielen (besonders Chopin, das konnte ich mir nicht vorstellen) oder als Komponist kreativ zu sein. Ich habe nicht sehr lange gezögert und begann, hart als Komponist zu arbeiten. Das Klavier ist aber immer noch meine Quelle, ich übe immer noch jeden Tag, ich nehme immer noch Stücke auf, die ich liebe (vor kurzer Zeit Liszt, Haydn), ich spiele immer noch Konzerte meiner Musik so oft wie möglich – aber ich bin in erster Linie Komponist.

Es ist unmöglich, Sie als Komponist einzuordnen. Ihr Spektrum ist sehr breit und reicht von Werken für Soloinstrumente bis zu abendfüllenden Balletten, von dem, was man klassische Moderne nennen kann, bis zur Avantgarde, zum Jazz und zum Blues. Sie schreiben Streichquartette und Musik, die verschiedene elektronische Techniken einsetzt. Und Ihre ganze Arbeit hinterlässt den Eindruck, von jemandem geschrieben worden zu sein, der sich dem Stil und der Gattung ganz widmet, in dem das entsprechende Stück geschrieben wurde. Alles macht vollkommen Sinn.

Tatsächlich interessiere ich mich für eine Menge Dinge, und ich überschreite gern traditionelle Grenzen. Mit 17 Jahren waren meine Helden in gleicher Weise Stockhausen, Hendrix und Ornette Coleman. Was für ein explosiver Cocktail! Aber mit dem heutigen Abstand scheinen diese Vorlieben sehr aufschlussreich. Ich habe die Fähigkeit, ganz verschiedene Ideen und Ansätze zu verbinden. Ich benutze Gattungen, alle möglichen Gattungen, um meinen Stil zu bilden. Und dieser Stil ist sehr eng mit dem verwandt, was ich „eine neue französische Musik“ nenne, anspruchsvoll aber populär.
Für mich ist zum Beispiel der Jazz sehr wichtig. Er ist keine andere Welt. Er gehört nun zur zeitgenössischen Musik.
Wenn Sie zum Beispiel die neuen Spieltechniken für Saxophon untersuchen, werden Sie leicht herausfinden, dass alle von Jazzmusikern erfunden wurden: Subtones, Multiphonics, Glissandi, Slaps, all die Intonationswechsel wie Smear oder Flip usw. Sie können diese Techniken in meinen Werken hören: in Les Accord secrets, Manhattan Rhapsody oder Attractions. Es handelt sich nicht um Effekte, sondern um Teile der Phrasierung. Für ein heutiges Orchester ist es sehr wichtig, all diese neuen Techniken zu kennen, die in der populären Musik erfunden wurden. Sie bilden die moderne Farbe!
Die sogenannte ernste Musik muss sehr nahe bei ihren Wurzeln, d.h. der populären Musik, bleiben, das ist eine Frage des Überlebens. Diese besondere Neigung gibt es in der französischen Tradition von Les Indes galantes bis zu Tsigane.

Sie sprechen von sich als einem französischen Komponisten. Was bedeutet das für Sie? Sind sie einfach en Komponist, der zufällig Franzose ist, oder hat der Umstand, ein französischer Komponist zu sein, in diesem globalen Zeitalter eine Bedeutung, die einen wesentlichen Unterschied zu einem Komponisten bildet, der zufällig Deutscher, Russe oder Amerikaner ist?

Kein Zweifel: das macht einen richtigen Unterschied. Wir alle sind im Weltdorf, aber wir sprechen nicht genau dieselbe Sprache. Man denkt nicht in der gleichen Art, wenn man etwas auf Amerikanisch oder auf Französisch ausdrückt. Das gilt auch für die Musik. Und die Klangfarben der Sprache verursachen ebenfalls bedeutende Unterschiede in der Musik. Debussy schrieb über die französische Musik in „Mr Croche“: Für ihn waren seine wichtigsten Eigenschaften Prägnanz, Farbe, Klarheit. Ich fühle mich bei dieser Beschreibung sehr wohl.
Ich schreibe gern anspruchsvolle Musik, die für jeden erfassbar ist: eine heutige Musik für jeden.
Und ich konstruiere gern die bestmögliche klare Form.
Wie Debussy oder Ravel bin ich unabhängig von jeglicher Gruppe oder Clique und mache meine Arbeit, wie ich will: Ich erfinde meine eigenen Regeln. Was ich weiß, ist, dass ich neue Melodien brauche (Echo de Narcisse, 2. Satz), neue Harmonien (La Statue aus La Petite danseuse), neue Rhythmen (La Chute, aus derselben Suite), neue Klangfarben (Paysages de conte), u.zw. in Fortsetzung meiner eigenen französischen Kultur. Und ich kann Ihnen sagen: Ich arbeite viel, damit man die Arbeit nicht merkt! Auch das ist französische Tradition (Rameau zum Beispiel).

Es werden so viel Zeit und Bemühungen beim Versuch aufgewandt, Kinder für die klassische Musik zu interessieren. Diese Bemühungen sind überwiegend erfolglos. Es ist, als hätten diejenigen, die an diesen Bemühungen beteiligt sind, kein Verständnis dafür, womit man heutige Kinder ansprechen kann. Bei vielen Ihrer Werke fällt mir auf, dass sie fähig sind, zur Jugend zu sprechen. Meine eigenen Kinder kamen eines Tages mit einer Gruppe von Freunden aus der Schule, als ich gerade Ihr Nerone Blues anhörte. Das eindeutige Urteil lautete: „Das ist wirklich cool!“ Interessiert es Sie, Musik oder Musikprojekte für Schulkinder zu schreiben?

Ich versuche immer, unmittelbar zugänglich zu sein, ermutige aber dabei, gründlich zuzuhören, daher überrascht mich Ihre Reaktion nicht. Im vorliegenden Fall ist die Mischung aus E-Gitarre und einer klassischen Form für junge Zuhörer sehr attraktiv.
Sicher schreibe ich auch für Schulkinder. Ich habe ein musikalisches Märchen für Orchester und einen Schauspieler auf einen sehr starken Text von Jacques Prévert komponiert: L’Opéra de la lune. Ich habe auch ein anderes Märchen für sieben Musiker und einen Schauspieler geschrieben, wobei ich von einem Text der Brüder Grimm ausging, den Bremer Stadtmusikanten und ich werde damit nächstes Jahr eine nette Show von 45 Minuten für Kinder produzieren. Auch schrieb ich einige Stücke für junge Klavierspieler, Little Preludes for little hands. Außerdem hoffe ich, eines Tages fähig zu sein, eine Oper für und mit Kindern zu kreieren, so wie Britten es tat. Ich freue mich, seit diesem Jahr ein sehr glücklicher Großvater einer wunderbaren Enkelin zu sein. Das wird mich sicher dazu veranlassen, öfter für Kinder zu schreiben.

Würde man mich fragen, was mich an Ihrer Musik am meisten beeindruckt, würde ich ohne zu zögern antworten: die Orchestrierung. Ich würde Sie mit Komponisten wie Ravel, Rimski-Korsakov und Stravinsky gleichsetzen. Was veranlasste Sie, solche Fähigkeit zu diesem Aspekt des Komponierens zu entwickeln?

Ich bin mit Ihnen einverstanden, was Rimski betrifft (ich setze mich zurzeit wieder mit Antar auseinander, was für eine großartige Instrumentierung!) und zweifellos Ravel, aber nicht Stravinsky (ich mag seine Systematisierung, seine Posen nicht wirklich). Ich würde Richard Strauss hinzufügen, vor allem für seine symphonischen Dichtungen.
Ich liebe Klangfarben. Ich erfinde gern neue Mischungen von Timbres. Für mich ist die Klangfarbe nichts, was man hinzufügt, nachdem man die Idee oder Form entworfen hat: Die Klangfarbe ist ein Teil der Form. Mehr noch, in einem modernen Sinn erzeugt die Klangfarbe die Form.
Als ich in den frühen 70er Jahren Anfänger war, versuchte ich, alle wichtigsten Instrumente zu lernen: Ich spielte Vibraphon, um die Schlaginstrumente zu verstehen, ich spielte Cello, um die Streicher zu verstehen, und Klarinette, um die Blasinstrumente zu verstehen, und Posaune auch noch! Für mich ist Musik eine Tätigkeit, nicht nur eine formale Konstruktion. Ich habe vor allen Instrumenten und dem, was sie zum allgemeinen Farbtonschema beitragen können, höchste Achtung. Diese eingehende Kenntnis der Instrumente und der Respekt ihrem inhärenten Wert gegenüber haben definitiv eine Auswirkung auf meine Instrumentierung.

Mit Ausnahme Ihrer Streichquartette und des Klavierkonzerts scheinen Sie traditionelle Instrumentalformen für große Besetzung vermieden zu haben. Waren Sie je versucht, eine Symphonie zu komponieren? Würden Sie eventuell ein zweites Klavierkonzert schreiben? Ich verstehe, dass viele Komponisten vor diesen großen Orchesterformen zurückschrecken, weil die Schwierigkeit, solche Werke aufzuführen, zu groß ist. Aber seit Ihrem Erfolg mit Ballett, Oper, Konzert und den Paysages de Conte könnte ich mir vorstellen, dass ein anderes großes Werk für Orchester von Denis Levaillant mit offenen Armen aufgenommen werden würde.

Ich schreibe gern Orchestermusik, ich liebe große Orchester, aber die Formen ändern sich. Ich denke an Musik als an eine dramatische Kunst. Die Sprache der Leidenschaften, den Ausdruck innerer Landschaften. Daher ist Musik für mich im Wesentlichen filmisch. Musik ist traumhaft. Mehrspuraufzeichnungen und digitale Filme änderten vollkommen die Art, in der man heute Musik schreiben kann. Das Komponieren hat eine neue Dimension betreten: eine akustisch/digitale. Einen neuen positiven Kreislauf! Hören Sie sich meine Drama Symphony an, die mit Samples anderer Orchesterwerke komponiert wurde, Les Couleurs de la parole. Wir befinden uns im Reich der Umwandlung.
Heutzutage erscheint es mir unmöglich, eine Symphonie im traditionellen Sinn zu schreiben. Ich bin jedoch dabei (wie konnten Sie das wissen?), eine Filmsymphonie mit dem Titel Le Livre des transformations, [Das Buch der Umwandlungen], zu schreiben, die meine Turangalîla sein wird: ungefähr 28 Minuten, ein großes Orchester. Ich hätte gern, dass sie im Rahmen einer Filmerstellung aufgeführt wird. Ich bin auf der Suche nach dem richtigen Auftrag. Und ja, ich plane, mein zweites Klavierkonzert zu schreiben (tatsächlich habe ich damit in diesem Monat begonnen). Ich hoffe, dass die Zuhörer Ihre Begeisterung teilen werden.


FÜR EINE NEUE MUSIK

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Um eine Musik von heute zu erfinden, genügt es nicht, ihre Klangfarben und Formen zu erneuern, sondern man muss gleichzeitig ihre Funktion, ihre Nützlichkeit verändern.
Durch diese doppelte Umwandlung kann eine neue Musik entstehen und sich entwickeln.
In professionellen Kreisen ist viel davon die Rede, dass wir einer „Krise der Musiksprache“ durchlaufen. Durch ihren Entschluss, reinen Tisch zu machen, vermachte uns die vorige Generation gleichzeitig mit einer großen Gründlichkeit bei der Forschung eine große Verspätung bei der Heranbildung des Publikums, wenn nicht sogar manchmal einen totalen Bruch mit ihm. Wenn wir von der Entstehung eines Werkes an ein neues Netzwerk herstellen und die Beziehung zum Publikum wieder notwendig machen, werden die ästhetischen Probleme viel natürlicher und somit kreativer erscheinen. Wenn es eine Krise gibt, handelt es sich eher um eine Nützlichkeits- als um eine Identitätskrise.

Oft ruft die zeitgenössische Musik Langeweile hervor, denn kein echtes Publikum kann sich mit ihrem Diskurs, ihren Herausforderungen und ihren Strukturen identifizieren. Es ist an der Zeit, dass die neue Musik in die Zukunft blickt, indem sie sich an ein größtmögliches Publikum wendet. Es ist an der Zeit, dass der Komponist aufhört, sein Publikum als eine mimetische Projektion seiner selbst zu sehen. Es ist an der Zeit, dass die von Vilar im Theater ausgelöste Bewegung endlich auch das Gebiet der Musik erreicht.
Da die Zeit der militärischen Metaphern („die Avantgarde“) vorbei ist, wird es an der Zeit, Kurs auf die offene See zu nehmen. Die neue Musik muss die Labors, ihre Studios, ihre Ghettos verlassen! Sie muss sich unter den Lärm der Stadt mischen, unter andere darstellende Künste, unter wirkliche Träger der wirklichen Welt! Sie muss ihre Forschungsergebnisse mit der Schilderung ihrer Zeit konfrontieren! Sie muss sich von populären Strömungen nähren! Sie muss Rundfunk und Bilder überfluten, wenn sie glaubt, dazu fähig zu sein! Die Zeit ist nicht mehr die der Künstler-Propheten, sondern die der unternehmenden Künstler, die in der Gesellschaft einen neuen Platz in Ruhe einnehmen.
Die sogenannte zeitgenössische Musik betrachtet die sogenannte „musique actuelle“ [aktuelle Musik] mit Verachtung, Angst und Neid. Dabei arbeiten beide mit den gleichen Mitteln. Unsere Zeit scheint sich allerdings an die vollkommene Trennung zwischen der „kommerziellen“ Art (fürs Volk) und der „kulturellen“Art (für die Elite) zu gewöhnen.
Die Komponisten dürfen diesen Bruch in der Musik von heute aber nicht gutheißen, sonst laufen sie Gefahr, sich in Kunstbeamte zu verwandeln. Liegt die größte Untugend dieses Systems nicht darin, ein Werk klassisch zu nennen, noch bevor es seinen gemeinschaftlichen Nutzen gefunden hat? Es ist an der Zeit, dass sich diese Welten vereinigen.
Die Musik ist kein Kulturzusatz für müde Eliten. Sie ist eine tiefe Bewegung, ein Elan der Seele, die reine dramatische Fantasie. Sie verbindet den Körper und den Geist, sie verbindet den Menschen mit seinem Menschsein. Es ist an der Zeit, dass sie ihre wahre Nützlichkeit wiederfindet: als Sprache der Seele und der Leidenschaften, bildet sie den Geschmack, bringt sie die Ausdruckskraft zum Vorschein.
In dieser Bewegung finden die („Interpreten“ genannten) Musiker einen entscheidenden Platz als praktische Forscher wieder, den sie in der Barockzeit wunderbar innehatten. Es ist an der Zeit, dass sich diese Wirtschaft, dieser Kreislauf, der für die Kunst der Musik spezifisch ist, von der Hypertrophie der Rolle des Komponisten befreit. Es ist an der Zeit, dass andere Autoren für die Musik auftauchen, praktische und theoretische Mutanten, Spieler und Schriftgelehrte, Dichter und Gaukler.
Für eine neue Musik ist es an der Zeit, neue Praktiken einzuführen.

15.06.92

Der Begriff « musique actuelle » wird seit 1997 vom französischen Kultusministerium verwendet, um damit verschiedene Arten von Musik wie Jazz, Rock, Chansons, traditionelle Musik, Rap, Techno, E-Musik usw. zu bezeichnen (Anm. d. Ü.).


MUSIK UND BILD

Fragt man mich nach der „Beziehung“ zwischen Musik und Bild, kann ich zunächst nur ablehnend reagieren, was ich nicht gerne tue: auf die typisierte Illustration, das Auffüllen einer gewagten Montage, den Gefühlskniff, kurz alles, was wir in Kino und Fernsehen hören und woran uns die „Filmmusik“ leider gewohnt hat. Bei Trivialproduktionen scheint tatsächlich der Ton die Musik verjagt zu haben, und auf der Tonspur selbst drängte der Dialog alle anderen Elemente der Erzählung in den Hintergrund. In einem solchen System hat die Musik die Funktion der Kolorierung, sie hat nichts mehr mit dem erzählerischen Aufbau und auch nichts mit der Bewegung der Kamera zu tun.

Wenn ich allerdings an einige seltene Filme denke, bei denen die Musik ihren Platz ganz natürlich einnimmt, und an die wenigen Szenen, in denen sie untrennbar mit dem Bild verbunden ist (fast immer in wunderbaren, spannenden oder tragischen Momenten), kann ich mir auch etwas anderes vorstellen: eine sehr gefühlsbetonte Musik, die sich in ein modernes Epos eingliedert (das die alte, vollkommen verbrauchte veristische Oper ersetzen würde); eine Abfolge von Metamorphosen, die die Studiotechniken benutzen würde (wenige Instrumente und eine große Vielfalt an Farben und Behandlungen) und sich in eine wirkungsvolle Fiktion (die von den neuen Techniken der digitalen Bilder weitergeleitet wird) eingliedern würde – kurz, ich weigere mich dagegen, mich vom Konformismus der gegenwärtigen Produktion geschlagen zu fühlen.

Zu diesem Thema verfüge ich über keinerlei Theorie, die ich anführen möchte, sondern nur über einige Erfahrungen zum Nachdenken. Acht Jahre Zusammenarbeit im Theater mit Alain Françon (aber auch mit Christian Colin oder Michel Dydim) und mehr als fünfzehn Kurzfilme bestätigten mir eine gewisse Anzahl an Intuitionen. Es ist ein Irrtum, wenn man mit aller Gewalt die sogenannte „absolute“ Musik von der „beschreibenden“ trennen will. Die Musik ist immer absolut, da sie vollkommen abstrakt ist. Doch ihr Wesen macht eine lebendige Abstraktion aus ihr: Sie ist die abstrakteste und sinnlichste Kunst, und diese beiden Eigenschaften sind bei ihr untrennbar. Sie verbindet sich mit dem Bild wie mit der Bühne durch die Metapher: Indem sich der Komponist den Inhalt der Situationen zu eigen macht, muss er zum Dramaturgen werden. Die Musik nährt sich hauptsächlich aus dem Zwischenbereich zwischen Worten und Gesten, sie erhellt das Dunkel, verfinstert das Licht; sie verdichtet und verherrlicht. Sie spricht durch Abstraktion mit der Fantasie, der Gefühlswelt, dem Innersten. In dieser Auffassung kann sie sich nur entfalten, wenn der gesprochene Text in der Aufführung (im Film) nicht das einzige Ausdrucksmittel ist, wenn der Regisseur (der Filmemacher) auch mit Unausgesprochenem, der Beziehung zwischen den Körpern, mit dem Licht, dem Raum und der Bewegung arbeitet. Dann spielt sie die Rolle einer quasi energetischen Triebmetapher.

In Hinblick auf das Handwerk des Komponierens ist die Arbeit mit dem Bild zunächst eine Schule der Präzision und besonders der Instrumentierung. Die Wahl der Timbres und ihr Platz im erzählerischen Raum haben großen Einfluss darauf, ob sich die Musik ins Drama integrieren kann. Ich glaube in diesem Sinn an den poetischen und symbolischen Gehalt jedes Musikinstruments, und diese Fähigkeit wird durch die Verbindung mit dem Bild noch verstärkt. Sie ist auch eine Schule der Fantasie, da der Komponist sich zwingen muss „am Tisch“ und nicht „im Saal“ (oder „im Bild“) zu schreiben, um seine eigenen Metamorphosen durchzuführen. Schule der Prägnanz der Form und schließlich der Verdichtung. In diesem Bereich können neue Formen der musikalischen Entwicklung zweifellos nicht vor dem Tag verwendet werden, an dem der ehrgeizige Filmemacher den Wunsch hat, sich wie ein Choreograph der zwanziger Jahre eine Partitur Takt für Takt zu eigen zu machen. Das heißt, wenn ich optimistisch (und geduldig) bin!

Wenn ich mich mit der Frau im Mond von Fritz Lang auseinandersetze, zwinge ich mich also, die richtige Metapher zu finden. Ich weiß, dass die (direkt gespielte) Musik diesen stummen Figuren Leben verleiht, u.zw. durch eine Art Alchimie der Energie zwischen den gefilmten Bewegungen ihrer Gesichter und unserer Augenblicklichkeit. Ich weiß auch, dass der Erzählrhythmus nicht mehr der unsere ist und ich über Gebühr komponieren muss (wobei ich mich gleichzeitig hartnäckig weigere, auf Stille zu verzichten). Ich fühle mich als Begleiter und daher begleite ich in der Grundbedeutung des Wortes („und immer begleitet etwas Furcht die Liebe“, Britannicus, V/3), sowie die große konstruktivistische Fiktion, den Mythos der Goldquelle als auch die Romanze, die Hymne auf die Moderne und den Beziehungsarchaismus. Diese Mischung verwirrt mich und findet in der heutigen Welt Resonanzen (ist sie nicht die der modernen Abenteuerfilme?). Ja, diese Arbeit ist eine wichtige Etappe in meiner Musikerlaufbahn auf der Suche nach anderen Methoden.

15.10.1994


Drei Motive für den Jazz

1 - Rhythmus und Metrum

Der Jazz ist nicht allegorisch. Er übersetzt für uns einige musikalische Ausdrücke wörtlich, die durch den europäischen Gebrauch schwierig wurden. Wie etwa: a tempo. Wenn man zu etwas zurückkommen muss, heißt das, dass man sich davon entfernt hat. Der Jazz kommt zum Tempo, zur Bewegung, zum Skandieren zurück.

Der Jazz und die daraus entstandene Improvisationserfahrung geben besonders dem Wort „Rhythmus“ seinen richtigen Sinn wieder: eine Eigenschaft der Rede. Dem französischen Wörterbuch Littré gemäß wäre der Rhythmus nämlich vor allem das Ergebnis einer Aufeinanderfolge von betonten und unbetonten Silben, d.h. in der Musiksprache eine Aufeinanderfolge von forte und piano in bestimmten Zeitabständen. Ob diese regelmäßig oder nicht sind, ist letzten Endes eine nebensächliche Frage. Dennoch sprechen wir in der europäischen Musik aufgrund eines allgemeinen Gebrauchs von einem „Rhythmus im Dreivierteltakt“, um das Metrum des Walzers zu beschreiben, und denken somit mehr an die Zahl (der Schläge oder der Silben in der Rede) als an die vorgegebenen Figuren. Der Jazz bringt uns also bei, dass der Rhythmus eigentlich eine bestimmte Kunst des Akzentuierens ist – Bud.

Transkribieren wir einige komplizierte Chorusse und lassen wir sie von einem Musiker spielen, der nicht für den Jazz ausgebildet ist. Die rhythmische und melodische Ausführung wird zwar perfekt sein, doch besteht das große Risiko, dass der Sinn für das fehlt, was man Swing nennt. Durch die Analyse der Tonhöhen kann man beweisen, dass dieses Gefühl besteht, wenn der Klang selbst betroffen ist, d.h. wenn sich das Timbre von einer Note zur anderen unregelmäßig verändert. Der Jazz informiert uns hier über die verzwickten Beziehungen innerhalb der sogenannten „Parameter“ des Tons. Höhe, Timbre und Dynamik sind nicht voneinander zu trennen, wenn man Musik hört und dabei mehr von den Figuren als von den Strukturen des Diskurses angesprochen wird.

Die Radikalität des Jazz besteht im Übergang von einer Zeit zur anderen, in jenem Hin- und Herschwanken, das ebenso durch Ersparnis, durch Zeitlücken – Monk – entsteht wie durch Überfluss bzw. Überflutung – Coltrane. Man findet hier die rednerische Idee der Zahl, die mit dem mehr oder weniger breiten Rhythmus der Phrase kombiniert ist. Das ist von der europäischen Auffassung der „jazzigen“ Musik ziemlich weit entfernt, d.h. von einem hopsenden Vivaldi, dieser merkwürdigen Art, den Jazz in den hiesigen neuen Schulen zu skandieren, wo man lernt, einen Standardrhythmus mit jeder beliebigen Phrasierung, jeder beliebigen Metrik, jedem beliebigen Tempo auszudrücken. Ich sehe in dieser Verzerrung einen gegenteiligen Beweis für die Reduzierung des Rhythmus auf das Metrum in der europäischen Musik.


2 - Die Geste und das Wort

An den geweihten Orten, den Tempel-Clubs, gehen Souffleur-Pythien auf die Bühne, Propheten-Fans umgeben sie, sammeln die Sätze, die jene fallen lassen, interpretieren sie, und schon hat man Orakel. So ist der Mythos des Jazz als Orakel-Kunst geboren.

Die Vernunft würde das Orakel gern aus dem Tempel vertreiben und ihre eigenen Wunder herstellen. Den Jazz notieren? Aber was vom Jazz notieren? Seine Farben, seine Brüche, seine Unreinheiten oder seine Gimmicks, seine Bequemlichkeiten, seine Erfolge? Den Jazz aufzuschreiben, heißt ihm einen Teil an Universalität zu verleihen, der ihm angeblich von Beginn an gefehlt hat. Als wäre er in einem vagen Brachland entstanden. Doch der Jazz ist alles andere als vage: Er ist artikuliert, akzentuiert, präzise. Er ist Rhythmus. Er ist Städter und lebt in einem kultivierten Raum.

Natürlich ist die Frage nach der Form wesentlich und darüber stolpert man oft. Manche sind so gut vorbereitet, dass man glauben könnte, einen aufgesagten Text zu hören. Andere erwarten alles vom Überraschungseffekt und brauchen von Konzert zu Konzert eine kurze Reserve an Zitaten auf. Nur wenige beherrschen den Sinn der Variation, die auf ein einziges Ziel ausgerichtet ist – Bird. Denn der Jazz ist eine Kunst für sich, die sowohl einen Sinn für strenge Entwicklung als auch für plötzlich Auftauchendes, die Explosion des Augenblicks erfordert.

Auf dieser Spielebene ist Improvisieren gleich Schreiben. Der Jazz ist eine pragmatische Kunst, in der die Formführung im Moment selbst organisiert wird. Diese Technik kann wie jede Kompositionstechnik erarbeitet werden. Ich war oft über die Ähnlichkeit der Ausdrücke verblüfft, die in bestimmten Abhandlungen über das Improvisieren – von denen es Hunderte in den Vereinigten Staaten gibt – verwendet werden, mit denen, die A. Schönberg in seiner kalifornischen Zeit benutzte. Die angewandte Methode verläuft parallel, u.zw. besonders für alles, was mit dem Begriff des Motivs zu tun hat (motivische Form, Umriss, Melodiezeichnung), das von den Lehrern des Jazz und vom grundlegenden Kompositionsunterricht als konstitutive Basis für jede Entwicklung betrachtet wird. Gut ist somit ein Motiv, das eine Gruppe von sowohl rhythmischen, melodischen als auch dynamischen Merkmalen besitzt und der Form ermöglicht sich auszubreiten.

In diesem Sinne zu improvisieren ist sicher eine ausgezeichnete Kompositionsübung. Der Jazz erinnert uns einfach daran, dass die erste Geste oft teuflisch richtig ist, und dass diese rasche Richtigkeit des Wortes hoffnungslos im Gegensatz zur Langsamkeit des Schreibens steht. Doch verlangt man von der Konversation die Struktur einer Rede zu haben? – Ornette.


3 - Mischlingsmoderne

Der Jazz kommt einer Frage gleich. Seine Meister hinterlassen eine Frage – Duke, Bird –, während die europäische Kunst zum Großteil auf die Fragen, die sie stellt, antwortet – Bach.

In Europa stellt uns der Jazz die wesentliche Frage nach der Erfindung der Schrift, dem tödlichen Vergangenheitskult. Er bietet ihm die Gelegenheit, seine Geschichte live neu zu lesen, hier ist gleich jetzt: Wer weiß, ob sich eines Tages nicht ein ganzes musikalisches System von winzigen Unterscheidungen zwischen zwei Interpretationen eines Chorus von Parker nähren wird, wie heute von den Mazurkas von Chopin? Und wer weiß, ob Chopin heute nicht in einem Club spielen würde?

Amerika stellt der Jazz im Gegenteil die ständige Frage nach der Modernität, der Vorliebe für die Kopie gegenüber dem Original, der Bearbeitung ästhetischer Formen auf dem Markt – Miles.

Denn der Jazz ist von seiner Anlage her ambivalent. Er hat die gesamte Kunstmusik des Jahrhunderts beeinflusst – jenseits von Anleihen und Zitaten könnte man diesen Einfluss in (den energischen Zügen) der instrumentalen Kompositionsweise entdecken, im Timbre des Orchesters (den Blechbläsern und Perkussionen), im aufgefrischten Sinn (den Entdeckungen) der Akzentuierung und der Farbe, ganz zu schweigen vom direkten Einfluss auf eine ganze Generation von Interpreten und Komponisten. Im übrigen verschwindet der Jazz aus der gleichen konstitutiven Bewegung heraus im Gewöhnlichen, Leichten, bereits Gehörten (im Salon). Wenn sie den „Jazz-Stil“ karikieren möchten, so wissen Sie ganz gut, dass es genügt, die Linie eines Walking Bass zu skizzieren: bedum-dum-dum. Das ist eine viel zu direkte (wörtliche) Signatur für viele Geister, die mehr zum Formalen neigen.

Der Jazz hat zu sich selbst nicht jene Post-mortem-Beziehung, die die europäische Musik weiterhin pflegt. Er verarbeitet seine Vergangenheit mit zunehmendem Alter und erinnert an gestern, um das Heute anzuspornen. Vermischt, ambivalent, als eine postmoderner Janus vor der Zeit, nährt sich der Jazz aus der Zeit aller Zeiten.

Aufgrund dieser drei Motive und einiger geheimer anderer könnte ich auf diesen anspruchsvollen Tanz des Jahrhunderts nun nicht mehr verzichten.

30.03.1999


NOTEN IN FORM EINES DOPPELSCHLAGS

(Vorwort zur zweiten Auflage des Buches „L’IMPROVISATION MUSICALE“)

Dieses Buch entstand in den siebziger Jahren aus der überschäumenden Zeit nach 1968, in der sich eine Generation die Mittel gab, anders zu handeln, zu denken, zu leben (in der Musik wie auch sonst). Selbstverständlich hatten wir unseren eigenen Ton, eine eigene Klangfarbe, einen eigenen Anstrich und all das klingt heute entzückend „veraltet“. Doch das Thema bleibt erstaunlich gegenwärtig, und das Buch L’Improvisation musicale, das fünfzehn Jahre danach von seinem soziologischen und biographischen Ursprung befreit ist, lässt sich lesen, als wäre es gestern entstanden: es spricht Unveränderliches an und befasst sich mit Musikalität.
Natürlich hat sich alles verändert! Seit der ersten Ausgabe hat die Improvisation den Lehrbereich erobert. Der zerstörerische Wahn der „zeitgenössischen“ Musik wurde verworfen. Die Komponisten sind als bescheidene Söhne Bachs zum Instrument, zur alten Praxis zurückgekehrt. Die Interpreten tragen den Kopf wieder hoch, die Musiker der Weltmusik werden nicht mehr von den Professoren der Musikanalyse als Untermenschen betrachtet, und alles bewegt sich ohne falsche Scham, der Körper frohlockt.
Natürlich hat sich nichts geändert! Die Improvisation hat nur ganz am Rande eine Existenzberechtigung im musikalischen Hochschulwesen. Sie wird nur dort geduldet, wo sie unabkömmlich ist, zum Beispiel beim Erlernen des Basso continuo auf dem Cembalo – und das nur dank des Verkaufserfolgs der Barockmusik. Die Schöpfer der „improvisierten Musik“ werden weiterhin wenig geachtet. Die rhythmische Kultur bleibt verkümmert. Der Austausch mit den Verfechtern der „Hyper-Komposition“ bleibt inexistent.
Die Debatte ist noch lange nicht abgeschlossen. Zweifellos sind wir gerade erst dabei, das eiserne Zeitalter des Formalismus hinter uns zulassen, diese neue Ars nova, die bei den meisten den Wunsch zerstört hat, neue Werke zu hören. Man hat uns daran gewöhnt zu glauben, die Musik sei einzig eine Frage des „Denkens“ (musica speculativa?), und der Musiker mit seinem Instrument habe sie nur auszuführen (musica practica?). Was für eine Einengung! Zwischen dem Denken und dem Werkzeug hat sich so eine tödliche Entfernung gebildet. Sehen Sie sich die talentierten Musiker an, die ehrlich versuchten, sich der Musik ihrer Zeit zu nähern, was spielen sie, wenn nicht Jazz oder Rock, und viele widmen sich dem Barock.
Es ist demnach verständlich, dass die Improvisation von vielen Musikern zutiefst wie ein Heilmittel gegen die offizielle Krankheit erlebt wurde und einer der Prüfsteine der musikalischen Erneuerung bleibt. Um zu improvisieren, muss der Musiker an das Unveränderliche herangehen, und somit von der Peripherie (dem Instrument) ausgehen, um das Zentrum (die Sprache) anzupeilen. Von ihrem körperlichen Ursprung behält die Improvisation eine Spur, und diese Mehrdeutigkeit ist für sie grundlegend: Der Geist wird dabei vom Körper informiert. Durch sie zähmt der Musiker Schritt für Schritt sein eigenes Wort. Sie bleibt daher äußerst kostbar.
Dass sie sich in eine Geste des Geistes verwandelt ist ein anderes Problem. Dass sie eine Bewegung ins Leben rief, u.zw. in dem Sinn, in dem man von „improvisierter Musik“ als Kategorie sprechen könnte, bezweifle ich – auch wenn sich einige militant dieses Buches bemächtigten, hat es niemals behauptet, eine Ästhetik zu definieren, die aus der Improvisation entstanden ist. Dass die Improvisatoren von heute darauf bestehen, sich als Komponisten zu geben, ist ein anderes Zeitzeichen. Ich selbst litt genug unter meiner doppelten Aktivität – Pianist und Komponist – um keine Steine nach ihnen zu werfen, doch dachte ich nie, dass diese Komposition, nämlich die des instrumentalen Spiels, genügen könne, eine Vision der Form aufzubauen. Wie man sieht, fällt es den Kategorien noch schwer sich zu klären, und dieses Buch wurde manchmal zu schnell gelesen.
Wir befinden uns nämlich ganz am Anfang einer tiefen Bewegung der Veränderung, und so Vieles gehört nicht mehr zu unseren Gewohnheiten! Dabei ist der Weg so angenehm, der uns vom Körper zum Geist führt, von der Improvisation zur Komposition, vom Instrument zum Komponieren! Er ist voll von Unerwartetem, von Entdeckungen, von Klarheit! Um frei zu denken, improvisiert der Musiker, so wie der Philosoph spazieren geht. Die Improvisation geschieht in der Einsamkeit, die ihr Wurzeln und Stärke verleiht. Man kann auch im Kollektiv improvisieren, das dadurch genährt wird – aber täuschen Sie sich nicht, selbst wenn Miles von vielen Musikern umgeben ist, lächelt er allein. Der Musiker improvisiert und begegnet dabei der Vergangenheit seiner Kultur und der gesamten Musik der Welt. Wer würde es wagen zu behaupten, dass wir diese Verbindungen nicht brauchen?
Ich hätte gerne, dass dieses Buch auch als eine Studie der jüngsten (aus der Improvisation entstandenen) Ressourcen der Komposition verstanden wird, als ein Vorschlag zu einer neuen Auslegung der Musikgeschichte (die von der Improvisation durchzogen ist), und schließlich als Überlegungen über die Musikalität (die von der Improvisation gefordert wird). Das Buch könnte den Untertitel: „Für eine neue Barockzeit“ tragen. Spüren Sie nicht die „Wiedergeburt“, die die alten formalistischen, kombinatorischen, strukturalistischen Praktiken umstößt (die voll von Schuldgefühlen, hässlich und langweilig waren), diese neue Ausgewogenheit zwischen Vergnügen und Strenge, Körper und Geist, Empfindung und Erzählung, Gelehrtheit und Volkstümlichkeit? Durch den Filter der Improvisation engagiert sich das vorliegende Buch für diese Bewegung der Wiedergeburt: Stellen wir andere Nützlichkeiten her.

Dezember 1995


Enki Bilal, Bühnenbildner

Der stärkste Augenblick meiner Zusammenarbeit mit Enki Bilal für O.P.A. Mia bleibt sicher der Tag, an dem das Bühnenbild (im Theater von Gennevilliers) endlich zur Gänze aufgebaut, die Wiedergabe des Tons grob bearbeitet war und wir den ersten Effekt, die erste Tonmischung der gesungenen Stimmen im Raum hörten.

Da sahen wir, dass wir uns nicht geirrt hatten, dass es zwischen seiner Welt und der meinen eine tiefe Verbindung gab. Die Musik hatte ihr Bild gefunden, diese veränderte, vorwegnehmende Realität, die ich suchte.

Als „Speakers“ in Radio-France gesendet wurde, sagte mir einer meiner Kollegen, dass ihn das Werk an Comics erinnere („Achtung, nicht wahr, das ist keine Kritik, ein guter Comic, versteh mich recht!“) Die Art, in der die Intellektuellen heute an die Comics herangehen, ähnelt ein bisschen der, in der sich die Geisteswissenschaft im 17. Jahrhundert gegenüber dem damals aufkommenden Roman verhielt = ein leicht herablassender Respekt für „etwas“, was noch nicht als Kunst eingestuft ist. Es ist wahr, dass die Comics vom langweiligen Fanzine bis zur bewundernswerten graphischen Arbeit einiger reichen, unter denen sich Bilal befindet. Aber reicht nicht auch die Musik heute von einem „Brei“, der zu Hause auf einem für alles taugenden Synthesizer fabriziert wird, bis zur kunsthandwerklichen introspektiven Kunst, die zum Komponieren noch erforderlich ist? Und findet man nicht bei ebendiesen Intellektuellen den gleichen Verdacht in Hinblick auf die Authentizität von Arten der Musik, die heute als „untergeordnet“ gelten – ich denke hauptsächlich an Musik, die mit dem Bild kombiniert wird, eine neue Kunst, die heute von den Händlern unter dem Wort „Filmmusik“ auf Abwege gebracht wird –?

Was Enki kreiert, wurde vor noch gar nicht langer Zeit als „Illustration“ bezeichnet. Das Beispiel unserer Arbeit an „O.P.A. Mia“ widerspricht dieser Kategorie. Meine Figuren existierten; die Rollen waren geschrieben; die Musik kopiert – und dennoch fehlte eine dramatische Charakterisierung. Ich kann sagen, dass Sunny Cash, der Gott des Geldes, und Sphinx, die Göttin der Wahrheit, erst an dem Tag geboren wurden, an dem Enki sich einverstanden erklärte, „die Bilder“ zu meiner Oper herzustellen = seine Vision der Götter, die sich im städtischen Underground der Femme Piège [Fallenfrau] verirrten, beschleunigte die meine. Wer illustriert was in diesem Fall? Enki ist aber auch kein Bühnenbildner. Man arbeitet mit ihm nicht, indem man mit ihm unermüdlich über die Dramaturgie diskutiert, man überarbeitet das Projekt nicht hundertmal. Er nähert sich ihm mit seiner Sensibilität. Es ist ein Chat, bei dem es nicht viele Skizzen gibt. Bei O.P.A. Mia setzte er seine Arbeit fort. Wie ein Maler.

Seit fünfzehn Jahren führe ich meine Musik szenisch auf und habe seither viele Werke in Zusammenarbeit geschaffen. Die effizienteste Funktionalität war immer das Ergebnis von Begegnungen, bei denen jeder Herr seiner Welt blieb. Dabei sollte die Kunst, wenn es nach der Gewohnheit ginge, auf Abwege geraten, wenn man sich in den Dienst eines gemeinsamen Objekts stellt.

Ich wette, dass die Distanz, von der ich vorhin sprach und die die Idee der Funktion der Kunst betrifft, eines Tages von selbst wegfallen wird.

Ich wette sogar, dass die Idee einer Kunst, die nichts anderem als sich selbst dient, im nächsten Jahrhundert unsere Enkelkinder zum Lachen bringen wird = das Design, Musik/Bild, erzählende grafische Gestaltung (eher als Comics?) werden den Markt beherrschen. Bis dahin bin ich fest entschlossen, meiner Vielseitigkeit (der Musik als Bühnenkunst) weiterhin nachzugehen, die es mir erlaubt, anderen Vielseitigen zu begegnen, wie Enki (der eher die Tendenz hat, seine Arbeit auf vielen Medien „abzuwandeln“, wie er sagt). Ich danke ihm, ein Stück Wegs mit mir gegangen zu sein – hier kommen mir diese Bilder wieder in den Sinn, die eine Begegnung zimmern: die Faszination, die Enki für meine Orchesterpartituren empfand („ich bin auf dieses Format neidisch“), seine ständige Aufmerksamkeit dem ganzen künstlerischen Team der Aufführung gegenüber, seine Genauigkeit gegenüber den Farbtönen während der Beleuchtungsproben, seine solide Präsenz gegenüber den Medien in Avignon – und dass er akzeptiert, seine grafische Gestaltung zum ersten Mal auf einer Bühne in 3D darzustellen, damit meine Musik gesungen wird.

20.09.1991

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